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Awareness-Forschung 17. März 2016

Radikalisierungen früh erkennen und bremsen

Unternehmen können sich, selbst wenn sie dies wollten, gesellschaftspolitischen Konflikten nicht entziehen. EU- oder auch US-Gesetze verpflichten sie zu Anti-Terror-Screenings und
auch im eigenen Interesse sucht die Wirtschaft nach Wegen, möglichst frühzeitig potentielle Gefährder zu erkennen: Ein aktueller oder früherer Mitarbeiter, der als IS-Attentäter auffällt, oder eine unentdeckte betriebliche Spendensammlung für Terroristen wäre nicht gut fürs Image.

Nach Ansicht der Verfassungsschutzbehörden war die von Salafisten bundesweit organisierte Koranverteilungskampagne „Lies!“ eine gezielte Maßnahme zur Radikalisierung von Jugendlichen für den djihadistischen Islamismus.
Nach Ansicht der Verfassungsschutzbehörden war die von Salafisten bundesweit organisierte Koranverteilungskampagne „Lies!“ eine gezielte Maßnahme zur Radikalisierung von Jugendlichen für den djihadistischen Islamismus.

Ansätze für eine betriebliche Früherkennung von individuellen Radikalierungs-prozessen wurden im Rahmen des 2015 abgeschlossenen EU-Forschungs-projekts Improving Security by Democratic Participation (ISDEP) entwickelt. Als Vertreter der Wirtschaft war hier die deutsche Sicherheitsberatung Result Group vertreten, die darauf aufbauend ein Konzept entwickelt hat, wie Unternehmen ihre Awareness für beginnende oder fortschreitende Radikalisierungsprozesse erhöhen können. Wir sprachen mit Nils Retkowski, Chief Operating Officer und Prokurist bei Result Group.

Die Zahl der potentiellen Gefährder ist nicht gering: Die Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ des Bundesinnenministeriums hat ergeben, dass 24 Prozent der nichtdeutschen und 15 Prozent der deutschen Muslime unter 32 Jahren starke Abneigungen gegenüber dem Westen und eine tendenzielle Gewaltakzeptanz haben. Gibt es inzwischen Ansätze, jene zu erkennen, die später tatsächlich zur Kalaschnikow greifen?

Nils Retkowski: Nein, Verhaltensprognosen sind extrem unsicher. Sie würden vermutlich auch einer erwünschten Deradikalisierung entgegenstehen – eine frühzeitige Stigmatisierung würde den Radikalisierungsprozess eher einleiten oder fördern als bremsen. Was die Forschung aber bieten kann, sind Erkenntnisse, wie diese Prozesse ablaufen und woran das Umfeld sie erkennen kann. Eine so geschulte Awareness wird den Unternehmen dann dabei helfen, mit höherer Wahrscheinlichkeit bei Beschäftigten kritische Verhaltensänderungen zu bemerken.

Sie können also erkennen, wenn ein bisher nicht radikal in Erscheinung getretener Mitarbeiter sich für die Ideologie des IS öffnet?

Ein entsprechend sensibilisierter und instruierter Vorgesetzter wird es merken. Das trifft, auch wenn hier im Moment das Hauptinteresse liegt, nicht nur auf Radikalisierungen mit djihadistischer Zielrichtung zu. In gleicher Weise lassen sich auch andere Entwicklungsprozesse, die zu extremistischen Einstellungen führen, erkennen. So könnte es beispielsweise auch ein Thema für Dienstleister im Kontext der Flüchtlingsbetreung sein, die fürchten, dass im Zuge der aktuellen Debatte Mitarbeiter rechtsextremistische oder fremdenfeindliche Einstellungen entwickeln.

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Und wie merkt der Arbeitgeber dies?

Das lässt sich nicht in einem Satz beantworten – normalerweise sind für die ausgewählten Mitarbeiter ein bis zwei Tage Coaching notwendig, in denen Menschenkenntnis und Beobachtungsfähigkeit aber auch Unterschiede je nach Art der Radikalisierungsziele und betriebsspezifische Faktoren vermittelt werden. Grundlegende Erkenntnisse der EU-Forschergruppe waren aber, dass ein Betrieb in der Regel nicht überrumpelt wird, also Zeit zur Beobachtung vorhanden ist. Denn fast niemand wird von heute auf morgen „extremistisch“. Auch bei gezielter Agitation dauert eine islamistische Radikalisierung, so die bisherigen Erfahrungen, mindestens sechs bis acht Monate.

Ist die Awareness im Unternehmen vorhanden, wird dieses in der Regel bei zwei für Radikalisierungsprozesse typischen Verhaltensweisen aufmerksam werden: Zum einen ziehen sich die Personen aus dem bisherigen Umfeld zurück, werden ‚ruhiger‘ und konzentrieren sich stattdessen auf jene Kreise, von denen sie Anreize zur Radikalisierung erfahren. Zum anderen sehen sie sich in zunehmend starkem Maße als Opfer der gesellschaftlichen Umstände und äußern diese Unzufriedenheit auch – etwa über den Umgang der westlichen Staaten mit Muslimen, den muslimischen Staaten oder dem Islam als Religion.

Angenommen, es gibt erste Indizien für eine Radikalisierung, wie geht der für das Problem sensibilisierte und geschulte Vorgesetzte damit um?

Er wird zunächst ein strukturiertes Gespräch mit dem Mitarbeiter führen. Dabei wird er herausfinden, ob die genannten und weitere Kriterien auf einen Radikalisierungsprozess hindeuten oder nicht. Für auffällige Verhaltensänderungen kann es ja auch andere Ursachen geben. Aber auch wenn radikale Ideen und Konzepte festgestellt werden, sollte die Kommunikation fortgeführt werden. Auf Missionierungsversuche sollte der Mitarbeiter dabei zwar verzichten, aber dennoch deutlich auf die im Unternehmen geltenden Leitlinien und die erwünschten Werte hinweisen. Die Gesprächsergebnisse bieten dann die Grundlage für eventuell weitergehenden Maßnahmen. Uns ist klar, dass sich der zuständige Vorgesetzte dann einem oft schwierigen Abwägungsprozess zu stellen hat. Reicht das zuvor vermittelte Wissen über Radikalisierungsprozesse nicht für eine Einschätzung aus, sollte er bei externen Experten, die es bei freien Trägern, Sicherheitsbehörden oder Consultants gibt, hinzuziehen. Letztlich bleibt die Entscheidung über die nächsten Schritte aber immer dem Unternehmen überlassen.

Sie können hier nichts Konkreteres raten?

Nein, die jeweilige Reaktionen hängen auch von der Policy des Unternehmens und von der Art der gewonnenen Erkenntnisse ab. Je nachdem in welchem Maße der Radikalisierungsprozess bereits fortgeschritten ist, stehen unterschiedlichen Reaktionen zur Auswahl. Solange der Mitarbeiter den im Betrieb übliche Toleranzanspruch noch akzeptiert, bleibt dem Unternehmen neben dem Verweis auf Beratungsangebote eigentlich nur, den Fortgang des Radikalisierungsprozesses zu beobachten. In vielen Fällen wird dieser auch aus eigenen Stücken unterbrochen. Auch der Verfassungsschutzbericht geht ja davon aus, dass nur jeder zehnte Salafist als gewaltbereit einzuschätzen ist.

Arbeitsrechtliche Maßnahmen sind nur die ultima ratio und auch nur dann erfolgversprechend möglich, wenn der radikalisierte Mitarbeiter den Betriebsfrieden bereits nachhaltig stört, beispielsweise wenn er sich weigert, einer vorgesetzten Frau zuzuarbeiten oder es zu Beleidigungen von anderen Mitarbeitern oder zu körperlichen Auseinandersetzungen im Unternehmen kommt. Ebenso wenn sein außerbetriebliches Engagement entsprechende Anlässe bietet.

Lohnt angesichts der überschaubaren betrieblichen Reaktionsmöglichkeiten der Aufwand?

Es ist wie bei der medizinischen Vorsorgeuntersuchung – der finanzielle und zeitliche Aufwand ist gering und lohnt in jedem Fall, auch wenn man dabei nichts findet. Das von uns konzipierte Coaching auf Basis von ISDEP ist ja nicht nur ein Signal an Radikale ‚wir haben Euch im Radar‘, es ist auch ein Signal an die große Mehrheit der Beschäftigten, dass sich das Unternehmen gegen Intoleranz schützen will und damit auch die Interessen der Mehrheit der Arbeitnehmer wahrt. Gleichzeitig sorgt die Schulung dafür, dass die Teilnehmer befähigt werden, falsche Verdachtsmoment auszuschließen, aber auch mit abweichenden Meinungen professionell gelassen umzugehen, ohne diese zu fördern. Hinzu kommt, dass das Unternehmen durch die verantwortungsvolle Beschäftigung mit dem nicht ganz einfachen Thema Radikalisierung und Grenzen der Meinungsfreiheit sein Profil schärft. All dies sind Pluspunkte für das Betriebsklima und das Unternehmensimage in einer für Unternehmen demographisch anspruchsvollen Phase.

Werden im Zuge eines solchen niederschwelligen Monitorings allerdings gefährliche Persönlichkeitsentwicklungen entdeckt, beobachtet und schließlich auch gemeldet, dann ist das allemal besser, als später Rechtfertigungen zu suchen, wie es sein konnte, dass aus einem problemlosen Mitarbeiter ein islamistischer Attentäter werden konnte.

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