Direkt zum Inhalt
Studiengang Kriminalistik 19. November 2012

Lange vermisst

Die Täter werden immer raffinierter, und oft sind sie hochgebildet: Bei Wirtschaftskriminellen ist ein hoher Anteil an Akademikern zu verzeichnen. Doch die Kernkompetenz des Ermittlungswesens, die Kriminalistik, konnte bislang nicht auf universitärem Niveau studiert werden.

Der neue Studiengang startet im Oktober 2012 an der Steinbeis-Hochschule.
Der neue Studiengang startet im Oktober 2012 an der Steinbeis-Hochschule.

Dieses Paradoxon gehört seit diesem Monat der Vergangenheit an. Es gibt ihn wieder, den universitären Studiengang Kriminalistik, und er stößt auf starkes Interesse. Der 24. Oktober dieses Jahres ist ein Datum, das für die akademische Welt eine besondere Bedeutung haben wird. An diesem Tag nimmt der erste Studienjahrgang (Pionierklasse) in der School of Governance, Risk & Compliance (School GRC) das zweijährige berufsbegleitende Master-Studium in der neuen Disziplin Criminal Investigation auf. 22 Jahre nach der keinesfalls unumstrittenen bildungspolitischen Entscheidung, aus der universitären Ausbildung im Bereich Kriminalistik auszusteigen, wird erstmals wieder im deutschsprachigen Raum ein solcher Studiengang angeboten.

Großes Interesse

Welchen Stellenwert die neue Fachrichtung in den Kreisen der Studierenden hat, wird durch ein Faktum deutlich, das selbst die Hochschulorganisation und den Lehrkörper der School GRC überraschte. Wie Birgit Galley, die Direktorin dieses Lehr- und Forschungsinstitutes mitteilte, gehören zu den Immatrikulierten neben Beschäftigten aus dem privatwirtschaftlichen Bereich auch Bedienstete der Behörden. Darunter Polizeibeamte, die sich von dem selbst finanzierten Aufbaustudium neben einem breiteren Wissen Pluspunkte für die Karriereentwicklung versprechen.

Polizeibeamte studieren Kriminalistik? Auf den ersten Blick wirkt das so, als würde ein gestandener Manager Betriebswirtschaft belegen. Doch der scheinbare Widerspruch löst sich schnell auf. Denn Kriminalistik ist selbst in den Hochschulen oder Akademien der Polizei immer nur ein Fach unter vielen. Auch an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup, der ehemaligen Polizei-Führungsakademie, gibt es kein separates Kriminalistik-Studium.

Doch das ist keinesfalls das einzige Mauerblümchen-Dasein der Kriminalistik. In den rechtswissenschaftlichen Studien tauchen kriminalistische Inhalte allenfalls als abseitige Randnoten auf. Selbst Fachanwälte für Strafrecht wissen in den meisten Fällen wenig vom „richtigen operativen, taktischen und technischen Vorgehen bei der Verbrechensverhütung und -aufklärung“ (Kriminalistik Lexikon). Fehlerhafte Ermittlungsansätze oder Falschinterpretationen von Spurenbildern, wie sie in überlasteten Strafverfolgungsbehörden durchaus vorkommen, können so von Strafverteidigern gar nicht widerlegt werden. Jedenfalls nicht auf Augenhöhe - und auf die kommt es an.

Anzeige

Auch für die Wirtschaft geeignet

Was hat dies alles mit der Wirtschaft zu tun? Sehr viel, denn in vielen betrieblichen Sicherheits- und Ermittlungsorganisationen hat sich schon lange die Erkenntnis durchgesetzt, dass ohne kriminalistische Kompetenzen sowohl jedwede Verdachtsfallbearbeitung als auch professionelle Präventivmaßnahmen Stückwerk bleiben müssen. Betriebliche Sicherheitsarbeit ohne breiten kriminalistischen Fundus, das wäre mit der Inbetriebnahme eines komplexen Mechanismus ohne Einweisung, Gebrauchsanweisung oder spezifisches Erfahrungswissen vergleichbar.

Seit Jahrzehnten schon müssen sich die Unternehmen aus den Personalbeständen des Polizeiapparats bedienen, wie viele klingende Namen aus dem Spektrum der Unternehmenssicherheit belegen. Auch umgekehrt kommt es zu personellen Transfers, wie Birgit Galley beobachtete. Gerade bei den Wirtschaftsabteilungen der Strafverfolgungsbehörden werden neben Juristen betriebswirtschaftliche Experten, beispielsweise BWLer und Buchhalter, eingestellt.

Doch Bypass-Lösungen haben in der Wirtschaft zumindest in der Anfangsphase entscheidende Nachteile. Polizeibeamte müssen ihre behördlich geprägte Methodenkompetenz erst auf ein nichtbehördliches Umfeld adaptieren und lernen, ohne große Apparate und Datenbanken auszukommen. Sie müssen umdenken und statt generalisierter Ermittlungsansätze den spezifischen wirtschaftlichen Kontext in der Vordergrund stellen. Das setzt zwingend ein breites Verständnis der betrieblichen Abläufe und einen weit über BWL-Basics hinausgehenden Wissensstand voraus. Ein unabdingbarer Anpassungs- und Lernprozess, dem nur intellektuell hochstehende und geistig wendige Ex-Beamte gewachsen sind: „Hochkaräter“, die andererseits bei den Strafverfolgungsbehörden eine Lücke hinterlassen, was kaum im Sinne der Inneren Sicherheit sein dürfte.

Mit dem neuen Studiengang der zur privaten, staatlich anerkannten Steinbeis-Hochschule gehörenden School GRC ist die Möglichkeit geschaffen worden, ohne Bypässe die kriminalistische Methodenkompetenz unmittelbar und effizient in das betriebliche Umfeld einzubringen. Und das passgenau statt adaptiert. So gehören zum Dozentenstamm des Kriminalistik-Studiengangs neben Polizeibeamten viele Leiter und Praktiker aus Konzernsicherheitsabteilungen, die den nicht immer einfachen Weg von den Behörden in die Unternehmen bereits erfolgreich beschritten haben. Experten, die genau wissen, welche feinen Unterschiede zwischen Kriminalistik Polizei und Kriminalistik Wirtschaft bestehen.

Im Masterstudiengang Criminal Investigation wird nach Angaben von Direktorin Birgit Galley unter anderem Expertenwissen in folgenden Fachgebieten vermittelt:

  • Kriminalstrategie und Kriminaltaktik
  • Interview-, Befragungs- und Vernehmungstechniken
  • Kriminalpsychologie
  • forensische Untersuchungsmethodik und Spurenkunde
  • IT-Sicherheit und IT-Forensik
  • Fallspezifisches Informationsmanagement
  • BWL und Bilanzmanipulation
  • Wirtschaftskriminalität
  • Beweisführung und -sicherung
  • internationale Kriminal- und Sicherheitspolitik.

Während der mehrjährigen Vorbereitungszeit des neuen Studiengangs wurde explizit darauf geachtet, dass der neue Studiengang nicht zu den theorieüberfrachteten Angeboten gehört, an denen die akademische Welt betrüblicherweise so reich ist. So wurde die renommierte Deutsche Gesellschaft für Kriminalistik (DGfK) als Initiator des Studiengangs von vornherein mit ins Boot geholt. Zwischen der Wirtschaft und der Leitungsebene der School GRC fand ein reger Austausch statt, um Lernziele und Lerninhalte in maximale Praxisnähe zu bringen. Bemühungen, die auch im behördlichen Bereich anerkannt werden. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) hat den neuen Studiengang ausdrücklich begrüßt.

Überproportionales Wachstum

Eine überaus positive Resonanz lässt sich auch aus der Relevanzstudie der School GRC ablesen. Auf der Grundlage eines vom DGfK mitkonzipierten Fragebogens wurden Experten und Führungskräfte aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft zum Bedarf und zur Schwerpunktsetzung eines Kriminalistik-Studiums befragt. Wie Melanie Reichelt, wissenschaftliche Leiterin des Institutes, erläutert, wird der Bedarf an kriminalistischer Fachkompetenz nach Ansicht von 70 Prozent der Befragten in den kommenden Jahren ansteigen. 30 Prozent gingen sogar von einem sehr starken Anstieg aus.

Die Experten prognostizieren, dass der Bedarf überproportional im nicht-polizeilichen Bereich steigen wird. Vor allem in der freien Wirtschaft in Unternehmensbereichen wie der internen Revision, Compliance-Abteilung, Konzernsicherheit und Risikomanagement. Ein denkbar schlechtes Zeugnis wird der Ausbildungs- und Studiensituation für Kriminalistik vor der Etablierung des neuen Studiengangs ausgestellt: 88 Prozent der befragten Experten beurteilen sie in Deutschland als mangelhaft oder ungenügend. Es wurde folglich höchste Zeit für neue universitäre Wege.

Klaus Henning Glitza

Passend zu diesem Artikel