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Videosicherheit 4. Mai 2023

Verrät der Knochenbau den Täter?

Eine neue forensische Analysemethode macht Videosicherheitstechnik noch wertvoller. Sie identifiziert Straftäter über deren Knochenbau.

Mit der sogenannten Rig-Methode könnten vermummte Straftäter mithilfe intelligenter Videotechnik über ihren Knochenbau überführt werden.
Mit der sogenannten Rig-Methode könnten vermummte Straftäter mithilfe intelligenter Videotechnik über ihren Knochenbau überführt werden.

Museums-Einbruch inspiriert Entwicklung der Rig-Methode

Ohne Brille, Schirmmütze und Schal geht der moderne Straftäter nicht aus dem Haus. Schließlich ist die Welt voller Kameras, die Beweise vom Tathergang oder der Flucht liefern könnten. Gegen eine neue Methode helfen aber weder Sturmhauben, Kapuzen oder Motorradhelme. Es ist die höchst individuelle körperliche Basis, die den Täter überführt. Bei einigen hat die neue Methode schon zur Verurteilung geführt. Noch sind es Einzelfälle, aber eine generelle Zulassung ist auf den Weg gebracht. Neben Fingerabdrücken und DNA-Spuren würde dann ein neues biometrisches Verfahren existieren, um Straftäter eindeutig zu identifizieren. Akzeptieren die Gerichte die Argumentation der Erfinder, könnte eine einzige, nur wenige Sekunden dauernde Sequenz einer Videoaufzeichnung ausreichen, den Täter revisionssicher zu verurteilen. Entwickelt wurde die Methode im Rahmen des BMBF Forschungsprojektes „Combi“ (Computerbasierte forensische Bewegungsanalyse zur Identifizierung von Personen). Über den aktuellen Stand der Forschungen berichtete Prof. Dr. Dirk Labudde von der Hochschule Mittweida im Rahmen der Sicherheitstagung IT-Defense 2023 im Februar in Mainz.

Indirekte Identifizierung über Bewegung und Knochenbau

Labuddes Methode ist neu, hat aber Vorbilder. Das bekannteste ist die so genannten „Bertillonage”. Entwickelt in den 1880er Jahren vom ehemaligen Chef des Identifizierungsinstitutes an der Polizei-präfektur in Paris Alphonse Bertillon. Er nutze die gerade erfundene Fotografie, um Straftäter unter kontrollierten Bedingungen standardisiert auf einem Drehteller zu fotografieren, und anschließend die Körperformen zu klassifizieren. Das sehr aufwendige Verfahren scheiterte allerdings in der Praxis oft daran, dass Verdächtige nur selten perfekte Bilder von sich hinterlassen und sich Zeugen oft nur ungenau zu erinnern vermögen. Ganz anders als Fingerspuren, bei denen bereits Teile einer Spur zur sicheren Identifikation ausreichen.

Dieser Mangel besteht auch im Zeitalter der Videoüberwachung weiter. Erst 2019 kam Labudde auf die Idee, Menschen statt über das Bild indirekt über Bewegung und Knochenbau zu identifizieren. Startschuss war ein Auftrag der Ermittlungsbehörden, Videoaufnahmen des spektakulären Einbruchs ins Berliner Bode Museum zu analysieren. Seit 2020 wird intensiv geforscht. Vor allem die exakte Analyse der vielen Vergleichsbilder gestaltete sich als extrem zeitaufwändig. „Aber nun haben wir eine Basis für weitere Forschungen“, resümiert Prof. Labudde.

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Entstanden ist das Verfahren im Rahmen des BMBF Projekt mit dem Titel „Combi“. Ein Name, den Prof. Labudde heute so nicht mehr verwendet. Die Bewegungsanalyse spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist ein passives biometrisches Merkmal – das so genannte “Rig”, ein abstrahiertes menschliches Knochengerüst. Dieses wird durch eine höchst individuelle Zahlenfolge beschrieben, die für einen Menschen charakteristisch ist. Ziel ist es, daraus ein Gegenstück zum international gebräuchlichen AFIS (Automatisiertes Fingerabdruckidentifizierungssystem) Standard zu entwickeln, mit dem Fingerabdrücke weltweit erfasst und verglichen werden. Noch ist das Rig-Verfahren aber nicht voll entwickelt. „Es kommen immer noch neue Aspekte hinzu”, erläutert Prof. Labudde. Aber das Gerüst steht und es diente bereits zur Überführung von Straftätern. Motiviert wurden die Arbeiten durch den frustrierenden Umstand, dass es oft Videosequenzen von Straftaten gibt, aber die Identifizierung der Täter nicht gelingt, weil diese sich maskieren oder ihr Gesicht von der Kamera nicht mit ausreichender Qualität erfasst wurde. Nun ist es Alltagswissen, das sich enge Freunde oder Verwandte schon von weitem am Gang und der Gestalt erkennen. Warum sollte ein Computer das nicht auch können? So entstand die Idee von einem digitalen Zwilling, der aus Videobildern entstehen sollte, und der dann dazu dient, den konkret Beschuldigten durch Vergleich der Proportionen als Täter entweder auszuschließen, oder zu identifizieren. Bei einem ausgewachsenen Menschen sind die Maße der Knochen sowie die daraus resultierenden Abstände im Knochengerüst unveränderlich.

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Museums-Einbruch inspiriert Entwicklung der Rig-Methode

Motiviert wurde Labudde wie erwähnt vom genauso prominenten wie dreisten Diebstahl der 100 kg schweren Goldmünze aus dem Bode Museum in Berlin. Für diesen Fall entwickelten er und seine Mitarbeiter am Lehrstuhl für digitale Forensik der Universität Mittweida die Rig-Methode und der Bode-Prozess war die Premiere vor Gericht. Am Anfang standen Bilder der Videoüberwachung. Die Täter liefen wissentlich in eine Videoüberwachung der Berliner S-Bahn, vermeintlich gut geschützt durch eine geschickte Vermummung des Gesichts.

Doch die Videosequenz war lang genug, um sie anhand der Körpermaße identifizieren zu können. Labudde, und seine Mitarbeiter legten die ermittelten Körpermaße aus Vergleichsaufnehmen von Verdächtigen wie Schablonen über die Standbilder der Aufnahmen aus den Überwachungskameras der Bahn. Kniegelenk auf Knie, Ellbogengelenk auf Ellbogen, Schultergelenk auf Schulter. So gelang es, die Mitglieder eines kriminellen Clans auf den Videobildern der S-Bahn zu identifizieren. Die Maße passten perfekt. Das Verfahren war aber noch zu jung und mit zuwenig statistischem Material abgesichert, um vor Gericht Bestand zu haben. Damit hatte die Polizei zwar einen entscheidenden Hinweis auf die Täter, aber Labudde kein wirkliches Erfolgserlebnis. Danach aber kamen weitere Fälle, wie der eines Tankstellenüberfalls oder eine brutale Auseinandersetzung unter Rockern.

Die Länge der Knochen und die Position der Gelenke seien zwar sehr individuell, so Labudde. Aber eben nicht so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Wie individuell ein Rig ist, wie viele Menschen das gleiche digitale Skelett aufweisen, kann die Forschung noch nicht exakt sagen. Zwei Jahre später haben er und seine Mitarbeiter die Daten vieler Versuchspersonen ausgewertet, und gehen davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen dasselbe Rig zuzuschreiben ist, zwischen  10^−15 und  10^−8  liegen dürfte. Damit wäre die Aussagekraft des Rigs vergleichbar mit dem des Fingerabdrucks. Bislang wurden noch nie zwei Menschen mit denselben Fingerabdrücken gefunden. Der Brite Francis Galton berechnete die Wahrscheinlichkeit, dass es zwei Menschen mit identischen Fingerabdrücken gibt, mit 1 zu 64 Milliarden.

Während die Daktyloskopie auf der individuellen Lage und der Form der menschlichen Papillarleisten der Fingerkuppen beruht, spielen beim Rig die Abstände der Gelenke die entscheidende Rolle. Um dies nachzuweisen, wurden zunächst 340 Personen beider Geschlechter und höchst unterschiedlicher Körpergrößen vermessen und ausgewertet. Mathematisch wird dazu der Euklidische Abstand der Gelenke ermittelt und dann die Wurzel aus der mittleren Abweichung gezogen. Klingt nach Mathematik, und es ist auch Mathematik. Aber nur Zahlenwerte lassen sich einfach und leicht vergleichen und in Datenbanken verwalten. Um zu den Euklidischen Abständen zu gelangen, wenn die Person auf dem Videobild eine aufgeplusterte Jacke trägt, ist sogar Künstliche Intelligenz nötig. Aber über diese Hilfsmittel verfügen die Forscher der Hochschule mittlerweile genauso wie über zahlreiche neue Messreihen. Das Ergebnis: die Werte des Rigs unterscheiden sich auch bei gleicher Körpergröße signifikant.

 „Bis jetzt habe ich nur Sondergutachten erstellen können“, so Prof. Labudde. Es dürfte noch eine Zeit dauern, bis das Rig so selbstverständlich vor Gericht als Beweismittel eingebracht werden kann, wie heute der Fingerabdruck oder die DNA. „Wir arbeiten dazu eng mit dem Lehrstuhl für Strafrecht der Universität Köln zusammen“, so Prof. Labudde.  Beim Fingerabdruck dauerte es 50 Jahre, bis seine Verwendung durch Erwähnung im deutschen Gesetzbuch anerkannt wurde. Genutzt wurde er von den kaiserlichen Polizeibehörden aber bereits seit den 1900er Jahren. Erfunden wurde das Verfahren in den 1850er Jahren. Es dauert also seine Zeit, bis sich neue Verfahren in der Kriminalistik etablieren. „Inzwischen haben wir drei Jahre intensiv an diese Rig-Methode gearbeitet und ich behaupte, sie ist eine machbare, eine gangbare Methode, um in Abhängigkeit von der Qualität des Videomaterials, eine Person zu identifizieren“, davon ist Prof. Labudde überzeugt.

Forschung zu KI-Fähigkeiten für Kameras
IDS ist seit Juli 2020 mit einer eigenen Niederlassung in Serbien vertreten und betreibt als Hersteller digitaler Industrie-Kameras Forschung speziell im Bereich KI.

Auf dem Weg in die Gerichtssäle

Alles scheint soweit auf einem guten Weg. Doch Prof. Labudde  sieht auch mögliche Probleme. Die aktuelle Diskussion um die KI bereitet ihm Sorge. „Es ist möglich, das bestimmte Ergebnisse aus forensischer Sicht sinnvolle Tools nicht in Gutachten einfließen dürfen, die vor Gericht bestand haben sollen. Juristen argumentieren mit einem Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht und eine zu hohe Eingriffstiefe in die Rechte des Beschuldigten. Die KI ist aber ein wichtiges Element der Bildanalyse. Sie erkennt auch unter einer Bomberjacke die Gelenkdrehpunkte, und die sind ein wichtiges Element des Rig“, so Prof. Labudde. Dazu zählt das ebenso im Rahmen des Forschungsprojektes entwickelte KI-Framework „Open Pose“. Es extrahiert alle relevanten Körpermaße eigenständig aus Videosequenzen.

Die Wissenschaftler haben die neuronalen Netze der KI anhand von mehreren 10.000 Bildern und Personendaten aus kommerziell verfügbaren Archiven der Bekleidungsindustrie trainiert. Heute ist es in der Lage, das menschliche Knochengerüst auch dann exakt zu rekonstruieren, wenn die betreffende Person sich mit einem weit geschnittenen Mantel oder Pluderhosen zu tarnen versucht. Knie, Schultern, Ellbogen und Taille werden vom Programm genauso erfasst und vermessen wie der Muskelaufbau. Das Computerprogramm richtet die Rigs automatisch an der Körperhaltung der Personen aus und ermittelt die Proportionen. Es beschleunigt die mühsame photogrammetrische Vermessung einer Person und das händische Übertragen der Körpermaße beträchtlich. Das Ergebnis ist dann das bereits erwähnte 3D-Knochenmodell. Trainiert wurden die KI auch mit realen Menschen. Polizeibeamte, die sich zur Verfügung gestellt hatten. Heute kann die KI bereits recht zuverlässig aus einem normalen 2D Bild einer Videoüberwachung das personenspezifische 3D-Rig der betreffenden Person erstellen.

Ein Rig besteht aus 11-13 Maßen. Sie sollen Grundlage für ein standardisiertes Verfahren werden, um schnell die Identität von Menschen ermitteln zu können. So, wie es seit Jahrzehnten bei Fingerabdrücken weltweit geübte Praxis ist. Voraussetzung sind scharfe Videoaufnahmen aus-reichender Auflösung. „Entscheidend ist, mit wie vielen Pixeln eine Person erfasst wurde“, so Prof Labudde. „Aber auch Beleuchtung und Lichtfarbe können eine Rolle spielen. Wichtig sind möglichst scharfe, klare und kontrastreiche Bilder mit guter Auflösung.“ Je besser das Videobild, desto schneller und präziser kann der Rechner das Rig erstellen. Für die Zukunft hat Prof. Labudde hier noch Wünsche. 3D Bilder aus der Videoüberwachung, oder noch besser, Hologramme und Laserscanner.     

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