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Öffentliche Sicherheit 30. März 2023

Standard-Waffe: Fahrzeug

Anschläge mit Fahrzeugen sind längst keine Ausnahme mehr, sondern zum Standard geworden. Die Taktik wird zudem nicht nur von Terroristen genutzt.

In den Jahren 2016 und 2017 fand eine Evolution von Überfahrtaten statt – als Anpassung an die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen in westlichen Ländern.
In den Jahren 2016 und 2017 fand eine Evolution von Überfahrtaten statt – als Anpassung an die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen in westlichen Ländern.

Als Bilal Abdullah und Kafeel Ahmed am 30. Juni 2007 ihren Jeep Cherokee in das Hauptterminal des Flughafens Glasgow in Schottland fuhren, wurde die Taktik des Anschlags – die Nutzung eines Fahrzeugs – als Ausnahme wahrgenommen. Es war zwar eine Überfahrtat, aber durch die Verbindung zu dem Londoner Autobomben-Fund am Tag zuvor und dem Sprengstoff im Jeep wurde dieser Anschlag als „klassisch“ angesehen, auch weil das Auto eher als Bombenträger (VBIED) denn als eigenständige Waffe eingestuft wurde.

Fünfzehn Jahren später, im Jahr 2022, gab es allein in den USA fast hundert Überfahrtaten mit Fahrzeugen als Waffen, und auch Deutschland hat bereits mehrere solcher Taten erlebt. Von einer Ausnahme ist die Überfahrtat mittlerweile zum Standard geworden und keinesfalls nur eine exklusive Taktik von Terroristen. Das Täter-Profil, die Motivationen, die Methodik, vieles hat sich verändert und zur aktuellen Situation geführt. Dieser Artikel befasst sich mit der Entwicklung der Bedrohung und den neuen Herausforderungen für Zufahrtsschutz und urbane Sicherheit, welche diese ausgelöst hat.

Angriffe mit Fahrzeugen: Von Terrorismus zum alltäglichen Gewaltinstrument

Zwischen 2007 und 2013 hat sich die Anzahl von Anschlägen mit Fahrzeugen leicht erhöht auf durchschnittlich vier pro Jahr, wobei die meisten Anschläge in Zentralasien und Nahost verübt wurden. Im gleichen Maß, in dem sich die Anzahl erhöhte, hat sich auch die Letalität erhöht. Diese beinhaltet den Anschlag 2007 auf den Glasgower Flughafen, den Bulldozer Anschlag 2008 in Jerusalem und den versuchten Anschlag auf die niederländische Königin in 2009, bei dem sieben Menschen ums Leben kamen.

Trotz der Anregung von terroristischen Organisationen, wie Al Qaida in 2010 oder ISIS in 2016, zum Beispiel LKWs als „Mähdrescher“ zu nutzen, gab es keine beweisbaren direkten Auswirkungen auf die Nutzung von Fahrzeugen als Waffen in Terroristen-Kreisen. Gleichwohl ist die Verbindung zu muslimischen Extremisten bis 2017 ein wesentliches Merkmal von Fahrzeug-Anschlägen, da die meisten Anschläge von Einzeltätern mit Verbindungen oder vermuteten Verbindungen zu extremistischen muslimischen Organisationen verübt wurden.

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Die nächste Evolution von Überfahrtaten

In den Jahren 2016 und 2017 fand die nächste Evolution von Überfahrtaten statt – als Anpassung an die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen in westlichen Ländern nach den Anschlägen in Paris in 2015 und Brüssel in 2016 sowie nach dem tragischen Erfolg der Anschläge in Nizza und Berlin in 2016. Bis dahin suggerierte das Profil von Überfahrtaten, dass Angriffsziele meistens Sicherheitsakteure, staatliche Vertretungen oder Menschen in gezielten Versammlungen in der Öffentlichkeit waren, etwa bei Veranstaltungen. Seitdem sind die Anschlagsziele ungenauer geworden, sie können überall sein, wo es generell Menschen gibt, wie auf Bürgersteigen oder Terrassen, an Bushaltestellen oder in Fußgängerzonen. Jeder Ort, wo jemand steht oder geht, kann ein mögliches Ziel sein, wie unter anderem die Anschläge in Westminster (London), Barcelona, New York und Toronto zeigten.

Mit den Anschlägen gegen die Finsbury Park Moschee in London am 19. Juni sowie gegen Demonstranten in Charlottesville, Virginia, USA am 12. August 2017 haben auch Rechtsextremisten Überfahrtaten als Taktik übernommen. Der Anschlag in Charlottesville startete sogar eine neue Tendenz, die sich insbesondere in 2020 standardisierte: Direkte Angriffe gegen Demonstranten. Das Angriffsziel war nicht mehr an einen Ort gebunden sondern nun mobil und bot minimalen strukturellen Schutz. Allein in 2020 fanden über vierzig solcher Anschläge in den USA statt, dazu zählen ab März auf die Pandemie bezogene Anschläge ebenso wie ab Mai rechtsextremistisch motivierte Überfahrtaten gegen die Black Lives Matter Bewegung.

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Baulicher Schutz im öffentlichen Raum
Verschiedene Anschläge mit Fahrzeugen im öffentlichen Raum haben die Menschen verunsichert. Hier sind bauliche Schutzmaßnahmen gefragt.

Anzahl an Überfahrtaten in der Alltagskriminalität steigt

Parallel zu diesen Veränderungen im Bereich Terrorismus und Extremismus stieg ab 2018 die Anzahl an Überfahrtaten in der Alltagskriminalität, wie zum Beispiel bei häuslicher Gewalt, Racheaktionen, aus einem Gewalt-Rausch heraus, gegen Fahrradfahrer oder aus unbekannten oder psychologischen Gründen, wie in Volkmarsen und Trier in 2020 oder in Berlin in 2022. Ein gutes Beispiel dafür ist auch der Anschlag auf eine Weihnachtsparade in Waukesha, Wisconsin (USA) am 22. November 2021. Dieser Anschlag ist besonders, weil der Täter zwei Überfahrtaten binnen einer Woche verübte, erst gegen seine Lebensgefährtin und dann eine Woche später gegen die Zuschauer und Teilnehmer der Parade. In beiden Fällen wurde ein politisches Motiv ausgeschlossen.

Die standardisierte Nutzung von Fahrzeugen als Waffe seit 2020 ist auch das Produkt eines sehr gefährlichen Phänomens: Der Wende von geplanten zu reaktiven Überfahrtaten. Dies erhöht die Unberechenbarkeit von Überfahrtaten, was zu drastischen Konsequenzen für die Prävention solcher Angriffe führt. Zusammen führten all diese Gewaltdynamiken seit 2020 weltweit zu rund 200 registrierten Überfahrtaten pro Jahr, was sehr wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs ist weil die meisten dieser Angriffe entweder nicht gemeldet werden, als Autounfälle eingestuft werden oder nicht in die entsprechenden bürokratischen Kategorien fallen.

Die Anzahl von Anschlägen mit Fahrzeugen hat sich lange Zeit nur leicht erhöht, seit 2019 jedoch ist ein sprunghafter Anstieg zu verzeichnen.
Die Anzahl von Anschlägen mit Fahrzeugen hat sich lange Zeit nur leicht erhöht, seit 2019 jedoch ist ein sprunghafter Anstieg zu verzeichnen.

Autos als bewusste Drohmittel und neue Herausforderungen

In Deutschland ist besonders die steigende Anzahl an Überfahrtaten gegen Demonstranten der Klima-Bewegung „Aufstand Letzte Generation“ besorgniserregend. Immer häufiger drohen manche Fahrer damit, Demonstranten zu überfahren – oder lassen ihre Drohung sogar wahr werden – und begründen dies mit „ich muss zur Arbeit“ oder „ich habe einen Termin“. Dies zeigt eine erhöhte Bereitschaft, Autos als bewusste Drohmittel zu nutzen. Eine Einstellung, die nach einer Analyse des Diskurses rund um die Aktionen der Klimaaktivisten gesellschaftlich viel weiter verbreitet und legitimiert ist als es derzeit verstanden wird. Dies erhöht die Sorge in Bezug auf das Potential von Überfahrtaten als Mittel für reaktive Gewaltsituationen, und die steigende Polarisierung rund um die Protestaktionen der Letzten Generation weist nicht auf eine Reduzierung dieses Potential für 2023 hin.

Die rasant steigende Frequenz geplanter und reaktiver Überfahrtaten seit 2018 zeigt, dass auch wenn Überfahrtaten zwar im Großen und Ganzen eine „Ausnahmebedrohung“ darstellen, das Risiko solcher Anschläge in kleinen Städten genauso wie in großen deutlich gewachsen ist. Damit sind für Sicherheitsakteure und Entscheidungsträger die Herausforderungen und Fragen komplexer geworden: Welche Orte müssen geschützt werden? Mit welchem Perimeter, insbesondere wenn das mögliche Ziel mobil ist? Wo steht die Grenze, wenn mögliche Angriffsziele überall sind? Und vielleicht noch wichtiger, was ist nun das annehmbare Risikoniveau?

Überfahrtatprofil und effektive Sicherheitskonzepte

Trotz dieser Entwicklungen ist es möglich, mit einem Überfahrtatprofil zu arbeiten, da es durchaus gemeinsame Nenner bei den Anschlägen gibt, und es dadurch auf bestimmte Tendenzen hinweisen kann. Ein Profil hilft bei der Risikoeinschätzung und dabei, effiziente und effektive Sicherheitskonzepte zu entwickeln. Es ist jedoch wichtig, dass die Konzepte in einem angemessenen Sicherheits- und Diskurs-Rahmen entwickelt werden, der Zweck besteht darin, das Risiko zu verringern und nicht es zu eliminieren.

Yan St-Pierre, CEO/Counter-Terrorism Advisor, Modern Security Consulting Group Mosecon GmbH

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