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Inventurdifferenzen im Handel: Personal + Technik

Die Inventurdifferenz betrug 2017 stolze 4,1 Milliarden Euro. Wie sich diese Summe zusammensetzt und wie technische Lösungsansätze aussehen können, erfuhr PROTECTOR & WIK von Frank Horst, Leiter des Forschungsbereichs Sicherheit & Inventurdifferenzen des EHI Retail Institutes in Köln.

PROTECTOR & WIK: Können Sie uns bitte zunächst die 4,1 Milliarden Euro aufschlüsseln? Das ist ja eine leichte Steigerung zu 2016.

Frank Horst: Nach Einschätzung von Handelsexperten sind Ladendieben davon rund 2,28 Milliarden Euro zuzuschreiben. Statistisch gesehen bedient sich demnach jeder Bundesbürger jährlich an Waren im Wert von 28 Euro im Einzelhandel, ohne zu bezahlen. Den eigenen Mitarbeitern werden etwa 850 Millionen angelastet, während den Lieferanten und Servicekräften weitere 320 Millionen Euro an Warenverlusten im Jahr zugerechnet werden. Der Rest ist auf organisatorisch bedingte Fehler zurückzuführen, die eine Fülle von Ursachen haben können, wie etwa falsche Preisauszeichnungen, Fehlbuchungen oder unvollständige Abschriftenerfassung. Die durchschnittlichen Inventurverluste sind zwar im Jahresvergleich gemessen in Prozent vom Umsatz konstant geblieben; in branchengewichteter Hochrechnung für den gesamten stationären Einzelhandel sind sie jedoch aufgrund der Umsatzsteigerungen von 4,0 auf 4,1 Milliarden Euro angestiegen.

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) von 2017 ist die Zahl der einfachen Ladendiebstähle aber gesunken. Wie passt das zusammen? Wird pro Diebstahl mehr geklaut?

Man muss wissen, dass die PKS nur einen Bruchteil der tatsächlichen Delikte erfasst, die Dunkelziffer beträgt über 98 Prozent. Insofern besitzt diese Statistik nur eine eingeschränkte Aussagefähigkeit. Aufgrund der Schadenhöhe kann man davon ausgehen, dass jährlich fast 23 Millionen Taten unentdeckt bleiben und daher auch nicht angezeigt werden können. Da vor allem durch die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten immer weniger Personal zur „Flächenbeaufsichtigung“ zur Verfügung steht, werden auch weniger Ladendiebstähle beobachtet, aufgedeckt und angezeigt. Und ja, es wird mehr geklaut, der durchschnittliche Warenwert je angezeigtem Diebstahl steigt stetig. Auch schwere Ladendiebstähle sind in den letzten zehn Jahren um das Zweieinhalbfache gestiegen, waren aber 2017 erstmals wieder leicht rückläufig. Hauptproblem ist jedoch die Zunahme des organsierten Ladendiebstahls, der hohe Schäden verursacht und nur sehr selten als solcher erkannt wird, da oft Banden am Werk sind.

Auch wenn die Zahl der schweren Ladendiebstähle leicht gesunken ist, befindet sie sich noch auf einem hohen Niveau. Von welchen Tätertypen sprechen wir da? Sind das Gelegenheitstäter oder die genannten Banden?

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Schwerer Diebstahl liegt immer dann vor, wenn das Diebesgut zum Beispiel durch ein verschlossenes Behältnis wie eine Glasvitrine oder ein Warensicherungsetikett besonders gesichert ist und dieser Schutz überwunden wird. Der Tätertyp bringt also von vornherein eine höhere kriminelle Energie mit, ist auf die Tat vorbereitet und hat in der Regel Werkzeug dabei. Gelegenheitstäter und professionelle Banden werden eher mit „einfachen“ Diebstählen in Verbindung gebracht. „Gelegenheitstäter“ werden nur dann aktiv, wenn ihnen die Gelegenheit günstig erscheint.

Bandendiebstähle sind hingegen durch arbeitsteiliges Verhalten gezeichnet: Das Beobachten des Verkaufsraumes, Personal ablenken, Täter abschirmen, Diebesgut zusammenpacken, Ware raustragen sowie der Abtransport von Tätern und Ware sind durch mindestens zwei oder mehr Personen gut durchorganisiert.

Nun investiert der deutsche Einzelhandel bereits seit Jahren gut eine Milliarde Euro pro Jahr in Sicherheitstechnik. Welche Technik kommt hier zum Einsatz?

Bei aller eingesetzter Technik steht zunächst immer die Abschreckung im Vordergrund. Es geht darum, das Risiko für Täter zu erhöhen, erwischt zu werden. Vor allem der Einsatz von Kamerasystemen hat daher in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Aber auch Warensicherungssysteme unterschiedlicher Art sind in vielen Branchen und an prekären Standorten mittlerweile unverzichtbar. Ferner sind warenwirtschaftliche Datenanalysen zur Erkennung von diebstahlgefährdeten Artikeln und internen Schwachstellen wichtig. Artikelsicherungsmaßnahmen, primär in Form von elektronischen Warensicherungen oder mechanischen Sicherungen, aber auch der Einsatz von diebstahlhemmenden Verkaufsträgern werden ebenso verstärkt eingesetzt. Andererseits begünstigen Veränderungen im stationären Handel oft den Ladendiebstahl. Insbesondere durch die bereits erwähnten verlängerten Öffnungszeiten bei gleichzeitig geringer Personalpräsenz bieten sich mehr Diebstahlsmöglichkeiten. Auch der verstärkte technische Sicherheitsaufwand kann dies nur zum Teil kompensieren. Um der Online-Konkurrenz zu begegnen, macht der stationäre Handel seine Geschäfte zum Beispiel durch offene Ein- und Ausgangsbereiche attraktiver, durch den Verzicht auf Kundenführungen, durch die Hinzunahme gastronomischer Konzepte bis hin zur Einführung von Self- Checkout-Lösungen. Dies alles sind Entwicklungen, die die Abgeschlossenheit von Verkaufsflächen auflösen und somit zusätzlich Tatgelegenheiten eröffnen. Diesen Herausforderungen wird sich der stationäre Handel auch zukünftig – personell und technisch – stellen müssen, um den Warenschwund zu begrenzen.

Eignet sich Sicherheitstechnik überhaupt für alle Ladengeschäfte gleichermaßen? Wie wird ein für das Unternehmen optimales Warensicherungskonzept aufgestellt?

Die Entscheidung für Sicherheitssysteme erfolgt immer unternehmensindividuell. Es hängt vom Standort, von der Diebstahlsgefährdung des Sortiments, der Warenpräsentation, der Personalpräsenz, den örtlichen baulichen Gegebenheiten und einer Fülle anderer Faktoren ab. Letztendlich entscheidet die Wirtschaftlichkeit von Sicherungstechnik über deren Einsatz. Idealerweise ergänzen sich Sicherheitstechnik und Personal beziehungsweise Sicherheitsdienste.

Sicherheitstechnik ist ja nur ein Baustein im Sicherheitskonzept, Sie erwähnten es gerade. Welche anderen Bausteine gibt es noch?

Teure Technik lässt sich nicht immer realisieren und hilft allein oft wenig. Deshalb sollten einfache Vorkehrungen wie übersichtliche Gang- und Regalanordnungen, zwingende Kundenführungen, eine ausreichende Beleuchtung auf der gesamten Verkaufsfläche, die Platzierung gefährdeter Artikel in Sichtweite des Personals sowie die Anbringung diebstahlvorbeugender Hinweisschilder und die Verwendung diebstahlhemmender Verkaufshilfen obligatorisch sein. Personalpräsenz ist jedoch der wichtigste Faktor. Technik allein kann nur Diebstähle erkennen, aber keine Täter stellen.

Wenn das Personal diese wichtige Rolle hat: Wie sieht es mit dessen Sensibilisierung für das Thema aus? Und reicht der klassische „Kaufhausdetektiv“ noch aus oder muss da nicht ein neues Berufsbild her?

Der Aufmerksamkeit des Personals kommt eine besondere Schlüsselrolle bei der Bekämpfung von Ladendiebstählen zu. Sensibilität von Mitarbeitern, Rechtssicherheit bei der Ansprache von Tatverdächtigen, Selbstsicherheit im Auftreten und Motivation zum Hingucken und Eingreifen ohne Selbstgefährdung sind aber nur dann gegeben, wenn ausreichende Kenntnisse vorhanden sind. Daher gelten die ständige Schulung und die Sensibilisierung des Personals weiterhin als wichtigste Präventionsmaßnahme. Es gibt ungefähr 15.000 Kaufhausdetektive und Doormen, die im deutschen Einzelhandel tätig sind. Die Zugangsvoraussetzungen zur Ausübung des Detektivberufes im Handel sind minimal (IHK Sachkundenachweis § 34a), bundeseinheitliche Ausbildungen oder Zusatzqualifizierungen bestehen nicht. Vor diesem Hintergrund haben viele Händler erkannt, dass eine weitere Qualifizierung dringend erforderlich ist, nicht zuletzt um Schaden durch unqualifizierte Kräfte von den Handelsunternehmen abzuwenden. Selbstverständlich ist der Handel auch bestrebt, durch den Einsatz qualifizierterer „Bewachungsfachkräfte“ die Effizienz der eingesetzten Dienstleistungsunternehmen zu steigern. Das EHI hat diese Initiative von Anfang unterstützt mit dem Ziel, einen bundesweit einheitlichen Qualifizierungsstandard zu schaffen, der es den Handelsunternehmen erlaubt, einen Ausbildungsnachweis als Mindestvoraussetzung in ihren Ausschreibungen aufzunehmen. Bei der EHI-Initiative wurde anfänglich auch versucht, einen eigenen Ausbildungsberuf „Kaufhausdetektiv“ zu schaffen. Leider – so die unbefriedigende Erkenntnis – lässt unser deutsches Ausbildungssystem diesen Ausbildungsweg nicht mehr zu, da es bereits ähnliche Berufsbilder, wie etwa die Fach- oder Servicekraft für Schutz und Sicherheit, gibt. Die Ausbildungsinhalte entsprechen aber leider nicht den umfänglichen Anforderungen des Handels.

Qualität hat ja auch immer ihren Preis – wäre denn der Einzelhandel dazu bereit, für solch qualifiziertes Personal auch mehr zu bezahlen?

Es gibt immer wieder Signale aus dem Einzelhandel, dass man bereit ist, für Qualität auch mehr Geld auszugeben. In der Praxis scheitert dies meines Erachtens nach jedoch oft daran, dass bei einer Auftragsvergabe die Qualitätsansprüche nicht garantiert beziehungsweise nicht objektiv nachprüfbar sind. Insofern sind neutrale Qualitätsnachweise wünschenswert. Hierzu bietet sich beispielsweise die Zusatzqualifikation zur „Sicherheitskraft Handel“ an. Ein Lehrgang, der von der Deutschen Sicherheitsakademie angeboten wird und dessen Inhalte vom Handel und EHI miterarbeitet wurden.

In letzter Zeit ist das Phänomen des Ladungsdiebstahls in den Fokus gerückt. Wie kann man denn dem Klau von ganzen Wagenladungen begegnen?

Ladungsdiebstahl ist in der Regel kein Bestandteil der Inventurdifferenz, die daraus entstehenden Schäden durch Warenverluste und Sachschäden an Fahrzeugen sind aber mit mehr als zwei Milliarden Euro im Jahr ebenfalls enorm. Finanziell betroffen hiervon sind primär die Spediteure und gegebenenfalls die Hersteller. Der Handel ist meistens „nur“ durch etwaige Lieferausfälle betroffen. Die Tätergruppen sind auch hier gut organisiert, und die meisten Delikte werden als Einbruch begangen, entweder durch Planenschlitzen oder durch Türaufbrüche an LKWs. Das größte Risiko besitzen ruhende Fahrzeuge.

Es gibt hier umfangreiche Empfehlungen von Transportorganisationen, um dieses Risiko zu minimieren. Dazu wird Fahrern unter anderem geraten, riskante Routen von vornherein zu vermeiden, weder Route noch Ladungsdetails Dritten mitzuteilen und nur sichere - bestenfalls überwachte – und gut ausgeleuchtete Parkplätze anzufahren. Annabelle Schott-Lung

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