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Gefahren professionell einschätzen

Geschäftsreisen und Entsendungen ins Ausland können zahlreiche Risiken bergen. Ein neuer Leitfaden bietet einen Überblick zur Gefahreneinschätzung.

Fangen wir mit zwei spektakulären Fällen an. Anfang Februar 2019 lief die Geschichte des Briten Ali Issa Ahmad durch die Medien. Der Fußballfan besuchte während des Asien-Cups die Vereinigten Arabischen Emirate und das Achtelfinal- Spiel zwischen Katar und dem Irak. Dabei trug er ein Katar-T-Shirt – was ihm die sofortige Festnahme einbrachte. Denn Sympathiekundgebungen für Katar sind in den Emiraten seit 2017 bei Strafe verboten. Im Herbst zuvor, Anfang Oktober 2018, waren mehrere Angestellte eines großen internationalen Konzerns in Florida unterwegs. Unvorbereitet wurde die Gruppe von den Auswirkungen von Hurrikan Michael betroffen und hat International SOS um Unterstützung gebeten. Als das Team von International SOS den Arbeitgeber über den Vorfall informierte, stellte sich heraus, dass dieser bisher gar nicht wusste, dass die Mitarbeiter überhaupt in Florida waren.

Mangelnde Kommunikation

Zwei verschiedene Erdteile, zwei verschiedene Gefährdungen – mit einer Gemeinsamkeit: Beide Situationen hätten sich durch die richtige Vorbereitung vermeiden lassen. Zur Zeit des Asien-Cups war das katarfeindliche Gesetz bereits seit mehr als einem Jahr in Kraft. Und wann in den USA Hurrikan-Saison herrscht, ist schon fast geografisches Grundwissen. Die Reisenden und Arbeitgeber hätten es also wissen können. Arbeitgeber stehen in der Fürsorgepflicht, die Gefahren der beruflichen Tätigkeit einzuschätzen und ihre Mitarbeiter vorzubereiten und zu schützen. Das Instrument dafür heißt Gefährdungsbeurteilung. In technischen Berufen, zum Beispiel in der chemischen Industrie, ist sie gang und gäbe. Die Gesetzgebung schreibt sie im Arbeitsschutzgesetz und unter anderem in den Verordnungen für Arbeitsstätten, Betriebssicherheit und Gefahrstoffe fest.

Gefahren auf Reisen

Für Reisen und Entsendungen allerdings hat sich die systematische Beurteilung von Gefährdungen in deutschen Unternehmen noch nicht überall durchgesetzt. Und das ist schade, denn selbstverständlich bergen Reisen genauso Gefahren wie der Umgang mit Säuren, Gabelstaplern oder Kettensägen. In den seltensten Fällen sind sie so spektaku- lär wie die Verhaftung wegen des falschen T-Shirts oder ein tropischer Wirbelsturm. Straßenverkehrsunfälle zum Beispiel zählen zu den fünf häufigsten Ursachen für Evakuierungen, die International SOS im Zusammenhang mit beruflichen Auslandsaufenthalten abgewickelt hat. In Europa gehen schätzungsweise 60 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle auf Verkehrsunfälle zurück (Quelle: EU-OSHA – European Agency for Safety and Health at Work: A review of accidents and injuries to road transport drivers, Luxemburg 2010).

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Gefährdungsbeurteilung

Es ist also an der Zeit, die Gefährdungsbeurteilung als festen Bestandteil in das Reiserisiko- Management einzuführen. In der Praxis haben sich sieben Schritte durchgesetzt:

  • Arbeitsbereiche und Tätigkeiten festlegen,
  • Gefährdungen ermitteln,
  • Gefährdungen beurteilen,
  • Maßnahmen festlegen,
  • Maßnahmen umsetzen,
  • Wirksamkeit überprüfen,
  • Gefährdungsbeurteilung fortschreiben.

Die Gefährdungsbeurteilung bildet keine isolierte Aufgabe, sondern stellt einen Schnittpunkt zwischen Abteilungen wie Unternehmenssicherheit, Travel Management, HSE (Health Safety Environment/ Arbeitssicherheit), Personal und Betriebsmedizin dar. Es muss klar festgelegt werden, wer jeweils zuständig ist, wer die Leitung innehat und woher das Budget kommt. Die Ermittlung und Beurteilung möglicher Gefährdungen ist eine Aufgabe mit vielen Dimensionen. Dazu gehören natürlich die Sicherheitslage im Zielland, aber auch die genauen Reisepläne sowie das individuelle Profil des Unternehmens und der Reisenden.

  • Das Profil der Reisenden umfasst Faktoren wie Geschlecht, Nationalität, Religion und sexuelle Orientierung, aber auch Alter, körperliche Einschränkungen sowie die geschäftliche oder gesellschaftliche Stellung. Alle diese Faktoren haben Auswirkung darauf, wie Reisende am Ort wahrgenommen werden. Gleichzeitig beeinflussen allgemeine Reiseerfahrung, Kenntnis des jeweiligen Kulturraums und der Sprache, wie Reisende ihre Umgebung wahrnehmen und sich verhalten.
  • Das Profil des Unternehmens ergibt sich zum einen aus den unterschiedlichen Einsatzfeldern der Reisenden: Mitarbeiter in Büros sind anderen Risiken ausgesetzt als zum Beispiel Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die auf politische Empfindlichkeiten und kulturelle Besonderheiten treffen. Dazu kommen möglicherweise bestehende Ressentiments gegenüber bestimmten Konzernen oder Branchen.
  • Die genauen Reisepläne (Reisedatum und Reisedauer) spielen eine wichtige Rolle. Religiöse, kulturelle oder politische Ereignisse und Befindlichkeiten, Feiertage oder Wahlen können Sicherheitslage oder Verkehrsinfrastruktur spürbar beeinflussen – genauso wie sportliche Großereignisse oder Taifunund Hurrikan-Saisons.
  • Nicht nur das Zielland, sondern auch der Zielort sind bei der Beurteilung der Sicherheitslage wichtig. Wie ist der Entwicklungsstand des Landes, geht die Reise in urbane Zentren oder abgelegene ländliche Regionen? Infrastruktur, Unterkünfte, Kriminalität, Extremismus sowie Klima und Geografie tragen unterschiedlich zur Gefährdung bei.

Digitale Unterstützung

Neben der richtigen Versicherung gibt es eine Reihe von weiteren präventiven Schutzmaßnahmen, wie aktuelle Informationen und Verhaltenshinweise zum Zielgebiet, und die sorgfältige Auswahl und Planung von Unterkünften und Verkehrsmitteln. Dies kann durch strikte interne Reiserichtlinien unterstützt werden. Dazu sollten auch digitale Lösungen zur Erfassung verschiedener Reisedaten sowie Tracking- und Ortungssysteme gehören, die in einem zentralen System die Möglichkeit bieten, mobile Mitarbeiter schnell zu lokalisieren und zu kontaktieren.

Das alles klingt nach einem Vorhaben, das drei Jahre dauert, 20 Leute beschäftigt und Unsummen kostet – und genau das sollte es nicht sein. Die Gefährdungsbeurteilung ist kein Projekt, sondern ein Prozess. Sie muss begonnen werden, kommt aber nie zum Ende, sondern wird laufend fortgeschrieben. Wer damit anfangen will, braucht Unterstützung. Die finden Sicherheitsverantwortliche im „Leitfaden zur Erstellung der Gefährdungsbeurteilung – Berufliche Auslandsreisen und Entsendungen“, den die International SOS Stiftung gemeinsam mit drei namhaften Partnern erarbeitet und herausgegeben hat: der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI), dem Gesamtverband der versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW) und dem Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Der 76-seitige Leitfaden schließt eine Lücke – denn bisher ist keine Handlungshilfe speziell für die Gefährdungsbeurteilung von beruflichen Auslandsreisen und Entsendungen veröffentlicht worden. Die Welt ist volatiler geworden, das Geschäftsreiseaufkommen steigt trotzdem. Das ist die neue Normalität. Gefährdungsbeurteilungen helfen dabei, mit der neuen Normalität umzugehen, damit alle Reisenden gesund und sicher nach Hause zurückkehren. Und nicht wegen eines T-Shirts im Gefängnis landen.

Frédéric Balme, Geschäftsführer International SOS Deutschland und Österreich

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