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Sicherheit in Behörden 10. April 2012

„Bieten Sie keine Wurfgeschosse an“

Im Informationsblatt „Sicherheit für Behörden mit Publikumsverkehr“ des LKA Niedersachsen werden Tipps und Hinweise gegeben, wie Mitarbeiter in ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Situationen angemessen reagieren.

Im Abschnitt Sicherheitsaspekte am Arbeitsplatz ist unter anderem aufgeführt: „Sowohl im Wartezonenbereich als auch an Ihrem Arbeitsplatz sollten den Besuchern keine Wurfgeschosse angeboten werden. Verstauen Sie Scheren, Locher, Hefter usw. möglichst in Ihrem Schreibtisch. Aschenbecher im Wartezonenbereich sollten fest montiert werden.“ Diese und weitere Empfehlungen können sicher hilfreich sein. Sie zeigen aber auch eine deutliche Ratlosigkeit hinsichtlich tatsächlicher Gefahren und entsprechender Präventivmaßnahmen.

Der sachkundige Leser mag über die Ratschläge den Kopf schütteln, den betroffenen Mitarbeitern überkommt eher ein Gefühl von Hilflosigkeit. Es geht nicht um Behörden mit klassischen Sicherheitsaufgaben, denn die verfügen über mehr oder minder gute Sicherheitsmaßnahmen. Es geht auch nicht um die klassische Informationssicherheit. Dazu gibt es umfangreiche und sehr weitreichende Leitlinien und Vorschriften. Es geht um die vielen Behörden mit Publikumsverkehr, wie Finanzämter, Einwohnermeldeämter, Sozialämter, Bauämter, Gesundheitsämter, Umweltämter und Gerichte, sowie dem Schutz der Mitarbeitern und der Besucher.

Fassungslos und entsetzt

Am Beispiel Bayerns wird deutlich, wie hilflos und unverantwortlich gehandelt wird. Als am 11. Januar dieses Jahres ein Angeklagter während einer Hauptverhandlung am Amtsgericht Dachau auf den Amtsrichter und den Staatsanwalt mehrere Schüsse abfeuerte und dabei den 31-jährigen Staatsanwalt Tilman T. mit drei Schüssen tödlich verletzte, herrschte in der Öffentlichkeit und bei den Verantwortlichen große Betroffenheit, Entsetzen und Fassungslosigkeit. Beim Betreten des Gerichtsgebäudes war der Angeklagte nicht kontrolliert worden. Er habe keine Sicherheitsschleuse durchlaufen, sagte ein Sprecher des bayerischen Justizministeriums. Er verwies darauf, dass eine Kamera im Eingangsbereich des Amtsgerichts installiert sei. Auch sitze ein Wachmann in der Pforte. „Der kann aber auch nicht jeden kontrollieren.“

Justizministerin Beate Merk (CSU) sprach den Angehörigen ihr Mitgefühl aus und obwohl es in den letzten Jahren in Gerichten etliche Attacken mit tödlichem Ausgang gab, sagte sie: „Wir sind fassungslos und entsetzt über die schreckliche Tat. Kein Mensch könne bei einem solchen Verfahren mit einer derart brutalen Straftat rechnen. Deshalb habe es auch keine speziellen Sicherheitsvorkehrungen gegeben. Bereits vor einiger Zeit sind individuelle Sicherheitskonzepte für die bayerischen Gerichte erarbeitet worden. Wir haben damals alle gewusst, wie wir auch heute wissen, dass keine absolute Sicherheit erreicht werden kann.“

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„Es müsse darüber nachgedacht werden...“

Bezeichnenderweise forderte der 1. Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins e.V am Abend der Tat schärfere Sicherheitsvorkehrungen: „Es müsse darüber nachgedacht werden, ob wir den Sicherheitsanforderungen gerecht werden, die wir Mitarbeitern und Besuchern der Gerichte schuldig sind. Bei allem notwendigen Schutz dürften Gerichte aber keine Festungen werden.“ In einer offiziellen Pressemitteilung des bayerischen Richtervereins vom 16. Januar war dann aber zu lesen: „Wir fordern, dass ohne Finanzierungsvorbehalte alles dafür getan wird, dass niemand Waffen oder andere gefährliche Gegenstände in ein Gericht mitbringen kann. Die bayerischen Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten erwarten, dass diese Forderung nicht nur von der für die ordentliche Gerichtsbarkeit zuständigen Justizministerin rückhaltlos unterstützt wird, sondern auch von den für die Fachgerichte verantwortlichen Ministern.“ Diese haben es nun in der Hand zu beweisen, ob es bei Lippenbekenntnissen bleibt, oder ob den Worten auch Taten folgen, mit denen die Sicherheit geschaffen wird, auf die die Bediensteten der Justiz und die rechtsuchenden Bürger einen Anspruch haben.

Hoher Anspruch – harte Wirklichkeit

Unerwähnt blieb, dass die zuständige Ministerin Beate Merk 2009 nach der Bluttat im Landshuter Gerichtssaal – es gab einen Toten und zwei Schwerverletzte - verkündete, individuelle Sicherheitskonzepte für die bayerischen Gerichte erarbeiteten zu lassen. Mit den Gerichtspräsidenten wurden umfangreiche Diskussionen darüber geführt, welche Sicherheitsvorkehrungen gebraucht werden und welche gewollt sind. Dazu muss man wissen: Jede Gerichtsbehörde ist als Teil der Judikative völlig eigenständig, wird von einem Gerichtspräsidenten geleitet und verfügt über einen eigenen Personalrat. Man einigte sich schließlich auf den kleinsten Nenner.

Die Gerichte sollten nicht zu „Trutzburgen“ ausgebaut werden und jede Gerichtsbehörde sollte ihr eigenes Sicherheitskonzept erstellen. Das Resultat dieser inkonsequenten Vorgehensweise: Eine permanente Einlasskontrolle gibt es bei den 215 bayerischen Justizgebäuden bis heute nicht. Mit dem Fokus auf die großen Strafgerichte gibt es Einlasskontrollen beziehungsweise Personen- und Handgepäckkontrollen nur bei den Gerichten in München, Nürnberg, Würzburg und Augsburg.

Die tödlichen Schüsse im Januar haben nun eine erneute Debatte über Sicherheitsvorkehrungen ausgelöst. Bemerkenswert ist, Ministerin Merk kündigte an mit Vertretern der Personalvertretungen ganz intensiv über den Konsens von 2009 zu diskutieren. Offensichtlich verhinderte damals unter anderem auch der Widerstand der Personalvertretungen die Einführung konsequenter Präventivmaßnahmen.

Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg

Gewollte Öffentlichkeit und Sicherheit sind kein Widerspruch. Festungen müssen nicht sein. Teure Sicherheitsschleusen wären auch nicht nötig gewesen. Im Fall Tilman T. hätten Personen- und Handgepäckkontrollen unter Verwendung von Handsonden auch gereicht. Staatsanwalt Tilman T. musste sterben, weil den Verantwortlichen – dazu gehören in erster Linie die Gerichtspräsidenten und die Richter - unter dem Motto „Es wird schon nichts passieren“ der Wille zur Umsetzung einfacher Präventivmaßnahmen fehlte.

Unmittelbar nach der Bluttat hat der Ministerrat diverse Erstmaßnahmen verabschiedet. Dazu zählen die Einstellung zusätzlicher Wachtmeister, die Beschaffung von Handsonden, Investitionen in technische und bauliche Sicherheitsmaßnahmen in Form kleinerer Baumaßnahmen, die Beschaffung von Dienst- und Schutzkleidung sowie Aus- und Fortbildung. Am Zugang zum Amtsgericht steht jetzt sogar ein Metalldetektorrahmen. Es bleibt abzuwarten, wie lange er dort steht und in welchem Umfang die verabschiedeten Erstmaßnahmen tatsächlich umgesetzt werden.

Länderübergreifendes Problem

Wirkungsvolle und nachhaltige Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen, ist nicht nur ein bayerisches, sondern ein länderübergreifendes Problem. Der Sicherheitsanspruch und der Wille zur Umsetzung liegen zu oft weit auseinander. Gründe sind Zuständigkeitsgerangel, Konkurrenzdenken, Profilierungssucht, Eigennutz, mangelnde Finanzmittel, mangelnder Sachverstand und uneinsichtige Mitarbeiter, die vielfach über ihr gesetzliches Mitspracherecht Sicherheitsmaßnahmen verhindern.

Im Fall eines hessischen Justizzentrums standen naturgemäß Zutrittskontrolle und Videoüberwachung im Fokus der fünf Personalvertretungen. Aber sogar bei den Vereinzelungsanlagen an den Personalzugängen - in weiser Voraussicht bedienungsfreundliche Drehtrommeltüren, die ein Umgehen der Personen- und Gepäckkontrollen durch Besucher verhindern sollten -, neigte man zur Ablehnung, weil sie Zitat: unbequem wären und weil man ja kontrolliert werden könnte. Auch bei Behörden des Bundes liegen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. So scheitert derzeit ein Bundesamt mit hohen Sicherheitsanforderungen an Budgetfragen und auch an Befindlichkeiten der Personalvertretung. Die Liste des systematischen Versagens ist lang.

Sicherheitsstrategie fehlt

Wer hinter die Kulissen schaut, erkennt sehr schnell, die Vielfalt der Interessen und Hindernisse erscheint unüberwindbar und Sicherheitsmaßnahmen können offensichtlich nicht einfach von „oben“ verordnet werden. Im Grundsatz fehlt eine nachvollziehbare Sicherheitsstrategie, welche die tatsächliche Gefährdungslage der Behörden realistisch analysiert und entsprechend wirkungsvolle Schutzmaßnahmen eindeutig definiert. Einerseits hätten die verantwortlichen Behördenleiter eine Entscheidungshilfe und andererseits wäre der unverantwortliche Umgang mit der Sicherheit Schutzbefohlener messbar. Was von der Wirtschaft zum Schutz der Mitarbeiter per Gesetz verlangt wird, sollte auch für Behörden des Bundes, der Länder und der Kommunen gelten.

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